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Wegwerfkultur ist bei der Kleidung jedenfalls eine perfekte

Baku, 3. November, AZERTAC

Ein Cardigan für 8,99 Euro, schnell und frei Haus. Der Onlineshop Lesara treibt den Billigtrend auf die Spitze - und versetzt die Textilbranche in Aufruhr. Die Schnäppchenjagd hat allerdings einen beachtlichen Haken.
Der Winter naht, und damit auch die Suche nach den Handschuhen. In welcher Schublade waren die im Frühjahr noch mal gelandet? Ach, egal: Neue sind fix bestellt, für 7,99 im Internet, echte Wolle, Lieferung frei Haus. Gibt's gar nicht? Gibt's doch: bei Lesara, dem ersten Discounter für Billigkleidung und Haushaltswaren, der ausschließlich im Netz verkauft. Das Berliner Start-up ist erst zwei Jahre alt und drauf und dran, den umkämpften Markt kräftig aufzumischen.
Lesara ist das logische Ergebnis einer langen Entwicklung. Seit Jahren kauft die Kundschaft weniger in Innenstädten und mehr im Internet, Deichmann konkurriert mit Zalando, Amazon legt sich mit Saturn und Thalia an. Mit Lesara gibt es nun auch eine Antwort des Internets auf Tchibo und neue Konkurrenz für C&A und Pimkie. Entsprechend selbstbewusst streut Lesara die Botschaft, den E-Commerce-Markt nachhaltig verändern zu wollen.
Facebook-Recherchen statt Designer
Das Geschäftsmodell ist ausgerichtet auf hohe Effizienz, niedrige Preise - und gleicht einer Mixtur der umstrittenen Erfolgsrezepte von Primark, Kik und Amazon: Das 150-köpfige Lesara-Team kauft Billigware bei 1500 Lieferanten vor allem in China und schickt sie dann per Luftpost nach Berlin und Staufenberg bei Kassel. Dort werden die Hosen, Messerblöcke und Armbänder sofort in schlichte Tüten gepackt und zu den Kunden gesendet. Wie sehr das Start-up dabei auf die breite Masse setzt, zeigt sich schon am Namen, der sich aus den beliebtesten Frauennamen Europas zusammensetzt: Lea und Sara.
Dabei spart das Unternehmen, wo es nur geht. Statt mit eigenen Designern etwa arbeitet Lesara mit Suchmaschinen und recherchiert bei Facebook oder Instagram: Im Netz oder bei der Konkurrenz angesagte Schnitte, Farben, Muster werden an die Lieferanten weitergeleitet, prompt geht die gewünschte Ware in Produktion. In eigene Entwürfe fließt also kein Geld, und nachbestellt wird nur, was sich gut verkauft. Keine Zwischenhändler und Großlager, kein Marketing, keine Saisonkataloge. Verkauft wird, was die Masse will - zu Preisen, die sie zu zahlen bereit ist. Turbokapitalismus wie aus dem BWL-Lehrbuch.
Hinter diesen Ideen steht Roman Kirsch, Sohn deutsch-kasachischer Einwanderer und Star der Berliner Start-up-Szene. Vor vier Jahren gründete der heute 27-Jährige die Shopping-Plattform Casacanda, eine Art Onlinevariante von Ikea, die er nach nur einem Jahr für knapp zehn Millionen Euro an das US-Vorbild Fab verkaufte. Casacanda sollte den Durst nach immer neuen Schnäppchen befriedigen, so wie nun Lesara.
Das Onlinekaufhaus soll an den Erfolg anderer Fast-Fashion-Ketten wie H&M anknüpfen, die mit ihrem Unterbietungswettkampf einstige Giganten wie Quiksilver und American Apparel in ernste finanzielle Nöte getrieben haben. Langfristig will Lesara so der wichtigste Kleidungsdiscounter im Netz werden. Die Chancen stehen nicht schlecht, doch über die Methoden lässt sich streiten. So wird jedes Angebot mit einer durchgestrichenen angeblichen Preisempfehlung zum "Deal" oder "Top Deal" stilisiert.
"Es gibt kein Produktionsland, das unumstritten ist" - Nicht nur diese sogenannten Streichpreise sind umstritten. Blogger beklagen etwa, Lesara suggeriere bei Billigartikeln, es handele sich um teure Markenware oder fälsche Kundenbewertungen. Alle Kundenbewertungen seien echt - es hätten lediglich Mitarbeiter gekaufte Porträtbilder fälschlicherweise mit echten Kommentaren kombiniert: "Solche Fehler passieren, wenn man sehr schnell wächst."
Kritik daran, dass fast das gesamte Sortiment aus Asien kommt, wehrt Kirsch hingegen ab. "Es gibt kein Produktionsland, das unumstritten ist", sagt er. Das stimmt so allerdings nicht - zumal seit Langem bekannt ist, dass die Produktionsbedingungen in asiatischen Textilfabriken oft unmenschlich oder gar lebensgefährlich sind. Kirsch verweist auf einen verpflichtenden Verhaltenskodex für Kooperationspartner und sagt, chinesische Sozialstandards seien "fast eins zu eins eine Kopie" deutscher Regelungen. Außerdem würden seine Mitarbeiter in China darauf achten, nur mit fairen Arbeitgebern zusammenzuarbeiten.
Lesara lässt seine Produkte trotz der vielen Berichte über die schwierigen Bedingungen für Arbeiter in mehr als tausend chinesischen Fabriken herstellen. Denn das Land, immerhin weltgrößter Textilexporteur, garantiert niedrige Produktionskosten sowie überschaubare Umweltschutzauflagen. Dabei sind die Folgen dramatisch: Zwei Drittel der chinesischen Gewässer sind vergiftet, vor allem mit Chemikalien aus der Textilindustrie.
Zugleich lechzt Europa nach billiger Massenware. 4,3 Millionen Tonnen Kleidung landen hier auf dem Müll - pro Jahr. Dass jedes Kilo Baumwolle bei der Herstellung 10.000 Liter Wasser verschlingt - egal.
Für Discounter wie Lesara ist diese Wegwerfkultur bei der Kleidung jedenfalls eine perfekte Geschäftsgrundlage: Inzwischen bietet das Portal auch auf Italienisch, Niederländisch und Englisch mehr als 50.000 Produkte "zu einem knackigen Preis" (Kirsch) an, 750 Tonnen Waren hat das Unternehmen binnen zwei Jahren an seine Kunden verschickt.
Drei Millionen Besucher - pro Monat - Ein Ende dieses Aufstiegs ist nicht in Sicht: 700.000 Besucher kamen vor einem Jahr monatlich auf die Lesara-Homepage, inzwischen sind es mehr als drei Millionen. Pro Woche verschickt das Start-up nach eigenen Angaben rund 50.000 Produkte, bei einem Wachstum von 20 Prozent im Vier-Wochen-Takt. Und das Vertrauen der Investoren in das Billigwaren-Modell ist offenbar groß: Erst im September sammelte Kirsch weitere 15 Millionen Euro ein. Das Geschäft läuft also, trotz Gift- und Müllbergen.
Kritik daran hält Kirsch für normal. Es gebe immer Leute, "die das Modell kritisch betrachten", sagt er - und fügt an: "Für uns ist ein supergutes Kundenerlebnis das Essenzielle."
Natürlich ist Lesara nicht allein verantwortlich für solche Missstände, und der Hunger der Massen nach Billigkleidung ist kein neues Phänomen. Doch das Start-up treibt diese Entwicklung auf die Spitze - angetrieben von einer weitverbreiteten Gleichgültigkeit beim Shoppen. Der Großteil der meist weiblichen Lesara-Kunden ist laut dem Start-up zwischen 25 und 65 Jahre alt, und eine kritischere Generation wächst nicht nach: 96 Prozent der Jugendlichen wissen laut einer repräsentativen Greenpeace-Studie von den unwürdigen Arbeitsbedingungen in der Modeindustrie - aber nicht einmal jeder Achte hat demnach sein Kaufverhalten verändert.

Business 2015-11-03 20:13:00